Jean-Christophe Ammann
„Ich dachte an das gespräch mit Nadjenka noch in Bern. ich sah sie unverwandt an dabei, wusste nicht, was mich an ihr so anzog. Nadjenka lacht, wenn sie richtig lachen kann, im flug. die langen hellen haare gehen mit ihr durch, ihre zähne überstrahlen die wolken. während wir sprachen, lagerte sich die bräunliche haut an ihrem hals unverrückbar in mir ab, und, ohne dass ich es wusste, war ich mir sicher, dass es möglich war, mich in sie zu betten. nie hätte ich damals so etwas zu ende gedacht! das gefühl, sie schon zu kennen, von früher um sie zu wissen, verstärkte sich mit der zeit.“[1]
Die Bildnisse sind auf Blickkontakt gemalt. Sie schauen die Malerin an. Giulio Paolini hat das 1967 genau realisiert: Auf Fotoleinwand reproduzierte er im Massstab 1:1 das kleine Bildnis eines Jugendlichen, gemalt von Giovanni Bellini, einem Maler der Renaissance. Er zog die schwarzweisse Fotoleinwand auf einen Keilrahmen auf. Den Titel „Bildnis eines jungen Mannes“ ersetzte er durch den Titel „Jüngling, der den Maler anschaut.“ Diese Umkehrung trifft voll auf die Bildnisse von Annika van Vugt zu. Es sind Frauen, denen die Künstlerin begegnet ist, die sie kennt, die sich ihr anvertraut haben. Also keine Modelle, die sie im Internet recherchiert hat. Frauen, denen die Künstlerin ihre Absicht erklärt hat, die zu ihr ins Atelier gekommen sind. Annika van Vugt hat die Frauen mit nacktem Oberkörper auch als stehende Akte fotografiert. Die Fotos sind Arbeitsmaterial. Das Merkwürdige ist, dass die fotografische Vorlage fast immer vom gemalten Bild abweicht. Die Abweichung, durch den Transformationsprozess bedingt, überträgt das Begehren in die Malerei. In der Malerei emotionalisiert sich das Begehren als ein anderes. Das gemalte Bildnis – Öl auf Leinwand in unterschiedlichen Ausmassen – ist ein durch Erinnerungsschichten gebildeter Resonanzraum. Das kann auch wörtlich verstanden werden, weil das Trocknen einer Schicht Tage beansprucht. Jede neue Schicht verändert das Bild, verwandelt es auch.
Die stehenden Akte erinnern an Zombies, als wären sie aus dem Hades zu uns in die Gegenwart zurückgekehrt, still, selbstbewusst, sich an sich selbst erinnernd.
Jetzt kommt jemand und sagt: „Das ist rückwärts gewandte Malerei!“ Der, der das sagt, ist nicht Künstler, sondern ein „Kunstbeflissener.“ Eine junge Generation von Künstlern hat die Entwicklung der Moderne – sagen wir mal ab Kandinsky 1911 – hinter sich gelassen. Natürlich generiert sich die Erzählung durch filmische Möglichkeiten. Aber entscheidend ist folgende Tatsache: Je stärker der Digitalisierungsprozess und die Abrufbarkeit von Informationen jeglicher Art voranschreitet, desto ausgeprägter erfolgt der Rückgriff auf die Tradition. Tradition ist im besten Sinne vergegenwärtigte Vergangenheit. Tradition meint die Errungenschaft der abendländischen Kultur. Ihr eingeschrieben ist der nackte (weibliche) Körper, zur Tabuzone überall dort erklärt, wo westliche Wertvorstellungen nicht gelten. Betrachtet man die weltweit gestreuten Biennalen, so behält die "politische Korrektheit" die Oberhand.
Die von Annika van Vugt praktizierte Umkehrung – im Sinne Paolinis – ist deshalb bemerkenswert, weil sie Kategorien auflöst und das Begehren in den Vordergrund stellt. Die Aneigung des Gegenstandes durch die Malerei ist keine Annäherung. Die nackten Brüste und der nackte Körper sind das physiognomische Pendant zum Antlitz.
Könnte man sagen, dass sich die Malerin in den Gegenstand der Malerei verliebt? Ich glaube schon, weil die Aneigung Überraschungen in sich birgt. Es ist wie bei einem Schriftsteller, der sich beklagt, dass der eine oder andere Protagonist die Eigeninitiative ergreift und nicht vom Autor geplante Wege geht. Aber gerade dadurch kann er eine unerwartete, eine verführerische und begehrenswerte Seite offenbaren, die den Schatten des Zwiespältigen mit einschliesst.
Die Bildnisse sind über den Zeitraum von einem Jahr entstanden. Annika van Vugt aber malt erst seit etwa zwei Jahren. 1983 geboren schloss sie ihr Studium in Erziehungswissenschaften ab. Sie hat sich die figürliche Malerei von der Pike an selbst beigebracht. Mit jedem neuen Bild ergab sich eine neue Erkenntnis, sowohl malerisch als auch auf die dargestellte Person bezogen. Das erklärt den Unterschied zwischen den Bildern.
Manchmal sitzt Annika van Vugt lange vor einem Bildnis und fragt sich: „Wer ist das?“, „Wie ist es geworden?“ Sie will ihr Gefühl in den Bildnissen erkennen. Um dies zu erreichen, braucht es die Abweichung, die Eigengesetzlichkeit der Malerei, die innere Vorbereitung, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Die Frau, die sie malt, muss die Malerei, die sie auffängt, lieben.
Nochmals zur Umkehrung: Sie ist verflixter, als man glaubt. Vielleicht deshalb, weil sie nicht revolutionär – im Sinne der Avantgarden – sondern subversiv ist. Das hat auch mit unserem heutigen Denken zu tun. Wir schauen weniger in die Zukunft, nehmen uns vielmehr selbst ins Visier. Das Positive daran ist, dass wir uns nicht in läppischen Globalisierungsdiskursen verlieren, sondern uns auf die Tradition berufen. Dass wir in der Lage sind, verloren gegangene bildsprachliche Ressourcen mit neuen, gegenwärtigen Inhalten zu aktivieren. Inhalte, die jenseits formalästhetischer Referenzen unser Bewusstsein bestimmen.